Im weltweiten Vergleich haben wir hier in Leipzig wohl Glück und kommen halbwegs gut zurecht. Wir dürfen zu zweit draußen spazieren, mittlerweile sogar ohne triftigen Grund das Haus verlassen, uns sportlich betätigen, im Kleingarten abhängen und sogar Ausflüge innerhalb unseres Bundeslandes machen. Dafür gilt seit dem 20. April die Pflicht, beim Einkaufen und bei Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel (meist selbstgebastelte) Schutzmasken zu tragen. Diese Masken avancieren gerade zu Fashion-Objekten, um nicht zu sagen zu Fetischen.
Awareness ist bei all den Aktivitäten immer begleitendes Thema. Treffen wir uns zur Projekt-Besprechung ganz konspirativ zu dritt im Hinterhof, in der Hoffnung, nicht von Nachbarn angezeigt zu werden? Oder führen wir doch lieber verpixelte und stockende Skype-Gespräche? Denn es gibt genug zu tun, der freien Szene in Leipzig wird jetzt von Förderinstitutionen dringend empfohlen, die bewilligten Projekte alternativ weiterzuführen, z.B. online (fällt Euch was anderes ein?). Alles muss sichtbar werden und zum Jahresende abgeschlossen sowie abgerechnet sein. Das betrifft auch unser Projekt “Multiplier’s Exile” mit der Redaktion der Zeitung El Flasherito aus Buenos Aires und vielen Künstler*innen in Leipzig. Die Online-Alternative sehen wir in dem Fall aber als keine Option und wählen vorerst die Strategie des Verschiebens. Vielleicht kann ja das Projekt im August oder im September stattfinden? Zusammen mit Millionen anderer verschobenen Veranstaltungen?
Derzeit schießen Corona-kompatible Kulturangebote in Leipzig wie Pilze aus dem Boden. Selbst während der Ausgangsbeschränkung verfolgt einen das Gefühl, alles zu verpassen. Dabei wollten wir uns doch erstmal an der von außen aufgezwungenen Möglichkeit erfreuen, endlich mal zur Ruhe zu kommen, in uns zu gehen und den ganzen Kulturkonsum ein bisschen runterzufahren. Die sozialen Netzwerke und täglichen Spaziergänge zeigen ein anderes Bild: Die strickende Performancekünstlerin im Schaufenster vom Kunstraum D21 – zu spät vorbeispaziert! Die Osteraktion des Kunstraums mit den Kunsttüten zum mitnehmen – ebenfalls versäumt! Wenigstens die tags und nachts beleuchtete Installation von Matthias Garff im Praline-Schaufenster kann kaum vertrödelt werden.
Hinzu kommt, dass extrem viel aus allen möglichen Kulturhäusern gestreamt wird. Und zwar gleichzeitig. Das Kulturangebot im Internet ist nun mal grenzenlos. Die Museen weltweit laden zu Online-Führungen und Vorträgen ein. Johann König, der angesagteste Berliner Galerist und der Sohn von Kasper König, verbindet sich jeden Morgen von Dienstag bis Sonntag live bei Instagram mit bekannten Künstler*innen in ihren Ateliers. Die Literaturhäuser veranstalten Lesungen online und die Theater streamen zu bestimmten Uhrzeiten die Mitschnitte der vergangenen Produktionen. Am absurdesten sind möglicherweise die Live-Schaltungen aus leeren Nachtclubs, in denen DJs ohne Publikum vor Ort auflegen. Ganz allein mit sich und dem Club im Laptop macht die fünfzehnte Minute eine*n langsam traurig… Nicht zu vergessen die privaten Bars, die über Zoom, Webex oder für old school user in Skype eröffnet werden. Eine Marktlücke dabei wäre die Entwicklung von Bar-Tracks, die eine Kneipenatmosphäre zu Hause simulieren. Rauchen darf dann aber jede*r selbst… Das ist womöglich der einzige Vorteil solcher Online-Trinkrunden: die Raucher*innen und Nichtraucher*innen können zusammen sitzen und keine der Parteien fühlt sich benachteiligt.
Eigentlich herrscht gerade eine gute Grundstimmung, möglichst viel kostenlos einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Kunst, Kultur, Literatur, Musik, Filme für ALLE. Voraussetzung ist natürlich das Wissen und die Motivation dazu und ein Computer mit Internetanschluss. Somit bleibt es wohl vorerst beim althergebrachten Publikum, schließt eventuell sogar ältere Stammbesucher*innen und sicher nicht wenige Schüler*innen aus. Diese verbringen während des Homeschooling so schon zu viel Zeit am Computer und besitzen oft keinen eigenen Rechner. Online-Kreativwettbewerbe für Kinder und Jugendliche nehmen generell rasant zu. Die Homeschool-Eltern schlagen die Hände über den Kopf zusammen. Leipzigs Kunstvermittler*innen betteln sich gegenseitig, die jeweils eigenen Kinder zum Einreichen von Bildern zu animieren.
Es häufen sich parallel warnende Stimmen, die digitale Welt und übrigens auch Autokinos würden langfristig gesehen die nicht kommerzielle Kulturwelt endgültig (z)ersetzen! Daran lässt sich jedoch zweifeln, weil ein Bildschirm niemals ein wahres Kunsterlebnis – sei es Theater, bildende Kunst oder Konzert – ersetzen kann. Allein am Bildschirm bist Du niemals in der tanzenden Menschenmenge, es lacht sich im Kino schöner und lauter, die Mitschnitte der Theaterstücke sind überwiegend unerträglich. Und, schlussendlich, wer verbringt schon gern nach mehreren Wochen Home Office seine Freizeit in digitalen Ausstellungen?
Die Aktivitäten in Lockdown sind manchmal auch politisch. Zum Beispiel verfasste die Leipziger Autorin Rebecca Maria Salentin einen offenen Brief an die Bundesregierung, den ca. 700 Kulturschaffende deutschlandweit unterschrieben. Es war eine Aufforderung, die zehntausenden Geflüchtete aufzunehmen, die auf griechischen Inseln und an der türkisch-griechischen Grenze gestrandet sind. Ein Problem, das im medialen Corona-Lärm unter den Teppich gekehrt zu werden schien. Nach der Veröffentlichung am 17. März konnte man ein paar Gegenstimmen aus der Bevölkerung wahrnehmen, z.B. auf der Facebook-Seite der Leipziger Volkszeitung, die den Aufruf ebenso veröffentlichte. Neben den einfältigen Kommentaren a lá “pieptst noch?” kamen auch “konstruktive Vorschläge”, die sämtlichen Kulturschaffenden gegen die gestrandeten Geflüchteten einzutauschen… Aber die Kunst gibt nicht auf. Die Leipziger Künstlerin Franz Jyrch, startete die Initiative “Nähen statt Netflix – Masken für Moria”. Jede*r kann Behelfsmasken für Geflüchtete auf Lesbos nähen, um diese bis zum 21. April im Kunstverein KV–Leipzig kontaktlos zu abzugeben, sie werden dann nach Griechenland verschickt. Es stellt sich hier die berechtigte Frage, ob es wirklich das ist, was die Leute auf Lesbos jetzt brauchen? Aber es kann auch als eine mögliche Strategie betrachtet werden, die Öffentlichkeit erneut auf die eklatanten Missstände aufmerksam zu machen.
Es kommen immer wieder Aufrufe zu gegenseitiger Solidarität in Leipzigs Kulturszene. Kleine Programmkinos und OFF-Theater bieten Gutscheine an, die eingelöst werden können, sobald sie wieder öffnen dürfen. Sie werden auch erfolgreich meist an Vertreter*innen der Kulturszene verkauft. Es gibt zudem die Möglichkeit, Kinowerbung – freiwillig und ohne einen Film danach – mit Unterstützung der Programmkinos zu gucken. Es wird nach Minuten gezählt und die Kinos deiner Wahl werden von den Werbenden bezahlt. Auf dem Portal Grandfilm kannst Du Dir ein Kino aussuchen, einen Stream für den Preis des Kinotickets kaufen und zu Hause Kino machen (insbesondere, wenn Du ein*e glückliche*r Besitzer*in eines Projektors und entsprechender Soundanlage bist). Bücher werden bei kleinen Buchläden bestellt, wie zum Beispiel hier in Plagwitz-Lindenau in Leipzig bei dem selbstorganisierten linken Buchladen Drift.
Die Situation ist schon verzwickt für die Kunst- und Kulturschaffenden. Wir gehen statt zu Vernissagen so viel spazieren und joggen wie nie zuvor. Dabei schieben wir all unsere Pläne für das Jahr 2020 im Kopf hin und her oder ganz weg. Freelancer mit Kindern zu Hause kommen gar nicht mehr zum arbeiten, da die Kitas, Schulen und Kleinkindbetreuungen geschlossen sind. Täglich gehen Infomails mit Links zu Corona-Soforthilfen raus, jede*r wühlt sich allein und umständlich durch unterschiedlichste Programme, Leitfäden, Ratschläge. Das Ergebnis bisher fällt für freiberufliche Kulturarbeitende eher unschön aus. Wegfallende Honorare von nicht stattfindenden Veranstaltungen können nur marginal ersetzt werden. Die nützlichste Information bleibt die vereinfachte Beantragung von Hartz IV. Aber das bekommen bei weitem nicht alle, Studierende zum Beispiel oder Menschen aus Nicht-EU-Ländern nicht. Generell schärft sich derzeit das Bewusstsein dafür, wie vergleichsweise abgesichert wir trotz allem hier leben, obwohl gerade eine Pandemie herrscht und ein umfassender Lockdown unser Leben auf unabsehbare Zeit einschränkt. Wie privilegiert die prekäre Kulturszene (mit EU-Pass) dennoch ist. Wir haben schließlich gerade die Zeit dafür, frei von Ansteckungsgefahr auf unseren Balkonen für die unterbezahlten Pflegekräfte in den Krankenhäusern und Pflegeheimen im Chor zu singen. Die Meinungen gehen stark auseinander, ob das wirklich hilfreich ist oder eher not täte, für faire Löhne mitzukämpfen.Wenn irgendwann alles wieder im Lot ist, wir vor lauter langer Krise total abgebrannt sind und dringend einen ordentlichen sozialversicherungspflichtigen Job benötigen sollten, könnten wir notfalls in den Schulbetrieb oder im Callcenter quereinsteigen – diese für einige eventuell deprimierenden Optionen fallen für viele Menschen mit geringeren oder nicht anerkannten Abschlüssen meist gänzlich weg. Wir werden im Jobcenter bei weitem nicht so fertig gemacht und in schlecht bis unbezahlte Arbeit gedrängt wie wie beispielsweise Menschen ohne Hochschulabschluss oder nichtdeutscher Staatsangehörigkeit. Aber Wohlstand ist bekanntlich relativ und bemisst sich an den jeweiligen Bezugssystemen, in denen wir uns befinden. Und je länger die Ausgangsbeschränkungen laufen und je unklarer deren Ende wird, desto deutlicher wird eine bisher noch recht diffuse Angst, dass es auch mal vorbei sein könnte mit all den Privilegien.
Yvonne Anders (Kunstraum Praline)
Olga Vostretsova (Бükü – Büro für kulturelle Übersetzungen)